Tom Otte

Gerechtigkeit in der Praxis

Gerechtigkeit in der Praxis

Wer sich ungerecht behandelt fühlt, der nimmt sich einen Anwalt und sucht den Weg zum Gericht. Denn unsere Gesetze haben die primäre Aufgabe, mit ihrem Regelwerk für den Rechtsfrieden im Land zu sorgen. Das Recht ersetzt die blanke Gewalt früherer Zeiten. Die dort dann produzierte Gerechtigkeit ist aber nicht allein die zwangsläufige Folge juristischer Regeln, da jede Klage irgendwann auf einen Richter trifft, und damit auf ein Individuum.

Schließlich ist das Recht keine Naturwissenschaft, wo alles auf unabänderlichen Gesetzen basiert, wo jedes Experiment zu einem annähernd gleichen Ergebnis führt. Das ‚Richtige‘ ist auch kein Abbild realer Gegebenheiten. Dennoch, ein Richter sollte – dies die populäre Auffassung – immer ‚zwischen‘ oder sogar ‚über‘ den Parteien stehen. Letztlich aber wird er immer ‚für‘ oder ‚gegen‘ eine Klage entscheiden müssen, dann, wenn er keinen Vergleich herstellen kann. Ungewöhnliche Entscheidungen genügen zwar manchmal einem ‚Gerechtigkeitsgefühl‘, so wie jene des Richters im ‚Kaukasischen Kreidekreis‘, der die Mutterschaft nicht länger an die DNA koppelte, sondern an die ‚Humanität‘ des Verhaltens. Dessen ‚weise und gerechte Entscheidung‘ wiederum hätte vor einem bundesdeutschen Gericht heute keine Chance mehr.

‚Gerechtigkeit‘ und ‚Richtigkeit‘ werden also zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich ausgelegt – das ist nun mal ein historisches Faktum. Was damals ‚Recht‘ war, kann heute sehr wohl ‚Unrecht‘ sein. Genau betrachtet ist auch die ‚Gerechtigkeit‘ nur ein „geronnenes Gesellschaftsinteresse“, das sich in Gesetzen ausprägt.

Das juristische System ist andererseits vom Mythos seiner Unparteilichkeit felsenfest überzeugt, jedem Richter wird sozusagen die ‚Neutralität‘ schon in die Wiege gelegt. Trotzdem haben gewisse Restzweifel auch zu Verfahrensregeln geführt, die diese Neutralität konterkarieren. So darf bspw. ein Fall, der in die Berufung geht, nicht von dem gleichen Richter erneut beurteilt werden.

Im Hintergrund steht dabei immer der Vorwurf der ‚Befangenheit‘, der die Produktion von ‚Gerechtigkeit‘ behindern könnte. Die Zahl der Richter aber, die sich per ‚Selbstanzeige‘ als befangen erklären, liegt in Deutschland nur knapp oberhalb der Nachweisgrenze. Nichtsdestotrotz ist es kein Zufall, dass Anwälte mit bestimmten Fällen allemal gern vor bestimmte Kammern ziehen.

Das liegt daran, dass Menschen einfach nicht ‚neutral‘ denken können. Hirnphysiologisch ist das unmöglich, und es gilt eben auch für Richter. Jeder Mensch ist ‚befangen‘ in seinen individuellen Weltkonstruktionen, und er kann nicht mehr tun, als die Gesetze möglichst normgetreu auf seine Befangenheiten anzuwenden. Mit anderen Worten: Richter sind auch nur Menschen.

Ähnlich ist es bei den Betroffenen: Die Gewinner eines Prozesses sehen natürlich einen absolut neutralen Richter, der ihrer klaren Rechtsauffassung zum Durchbruch verhalf, die Verlierer wiederum einen befangenen Richter, dessen ‚Skandalurteil‘ sie nicht akzeptieren werden.

Beides trifft zu, ist aber noch lange kein Skandal: Die Produktion von ‚Gerechtigkeit‘ in einem demokratischen Rechtsstaat beruht vor allem auf der Einhaltung von juristisch-gesetzlichen Verfahrenswegen durch ‚in sich selbst befangene Richter‘ – auch im Arbeitsrecht, beim Gesundheitsschutz oder bei tariflichen Auseinandersetzungen.

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