Tom Otte

Sozial wählen!

Sozial wählen!

Jeder kennt die Geschichte von dem Frosch, der gar nicht merkt, wie er in seinem Becherglas gekocht wird, wenn der Versuchsleiter die Temperatur nur langsam genug erhöht. Sagten wir, dass etwas Ähnliches mit diesem Staatswesen passiert sei, ernteten wir verwunderte Blicke. Wir alle betrachten die Welt von heute durch eine Froschlinse.

Was aber ist passiert? Nun, wir haben gewissermaßen dem Behemoth zu viel Macht gegeben. Die Lehre von den zwei Ungeheuern geht auf Thomas Hobbes zurück. Der englische Philosoph hatte den Bürgerkrieg auf den britischen Inseln und den Dreißigjährigen Krieg analysiert und seine Erkenntnis in ein Bild gefasst: Was die Zeitgenossen erlebt hatten, sei das Wüten des Behemoth gewesen, die unbeschränkte Zerstörung aller zivilisatorischen Standards durch Anarchie und Söldnertum in einem Krieg, den jeder gegen jeden führte. Um so etwas in Zukunft zu verhindern, müsse ein gleichstarkes Ungeheuer her, der Leviathan, der den Behemoth zähme. Eine starke Staatsgewalt, ausgestattet mit allen Vollmachten, sollte den Frieden garantieren. In Deutschland vertrat dann der ‚preußische Staatsphilosoph‘ Samuel Pufendorf ähnliche Positionen.

Was aber sollen die alten Kamellen aus der frühen Neuzeit uns heute lehren? Es ist ganz einfach, auch wir haben gewissermaßen den Leviathan geschwächt, so dass der Behemoth wieder Macht über uns gewann. Die Lehren von Friedrich Hayek und dem sog. ‚Neoliberalismus‘ richten sich direkt gegen den Staat: Er müsse auf allen Ebenen beschnitten werden, sich aus allen Lebensbereichen zurückziehen, ‚privat‘ sei allemal besser als ‚öffentlich‘. So ist es heute wieder möglich, dass der Behemoth dem Staat durch intelligentes Fiskal-Design massenhaft Steuern hinterzieht, dass sich unser Staat in eine ‚wirtschaftskonforme Demokratie‘ (A. Merkel) verwandeln konnte, wo längst der Behemoth das Handeln des Leviathans bestimmt.

Seit den Zeiten des großen Oggersheimers hat sich der Kapitalismus immer weitergefressen, er hat Familien gesprengt, Gewissheiten und Selbstverständliches. Unsere Kinder lernen nicht länger, um Kultur und Bildung zu erlangen, sondern um ihr „Potenzial“ zu entwickeln. Die Sachlage, so wie sie der Karlsruher Bundesrichter Thomas Fischer sieht:

„Auch das Geld hat sich aus der Ökonomie verabschiedet und ein eigenes Sonnensystem gegründet. Jedermann ist für sich selbst verantwortlich. Niemand für den anderen. Da kommen viele nicht mit, eine Welt vollendeter Konkurrenz produziert Verlierer in unvorstellbaren Massen. …

Was ist die Wirklichkeit der Abgehängten? Seit Kanzler Gerhard Schröder verkündete, was ihm und den Talkrunden der Neunziger Jahre unvermeidlich schien, ist der Reichtum der Reichen in unserem Land explodiert wie niemals zuvor. Der sogenannte Mittelstand hat zugleich fast alles verloren, was sein Selbstbild ausmachte: Sicherheit, Bildung, Gemeinsinn. Das abgehängte Viertel schließlich hat erfahren, was seit 1949 verborgen war. Ihm wurde und wird gesagt: Die Deutschland AG ist für euch nicht mehr zuständig. Eine gemeinsame Aufgabe, euch zu retten, euch zu emanzipieren, euch wichtig zu finden, gibt es nicht mehr. Dafür kriegt ihr aber Hartz IV und RTL2 und notfalls Sachleistungen, wenn’s sein muss. Und wenn ihr frech werdet, ein paar Hundertschaften Bundespolizei auf den Hals.

Pegida und AfD sind also am Ende nichts anderes als unsere eigenen, deutschen Ausländer. Klingt wie ein Scherz, ist aber keiner. Heimat- und trostlos ziehen sie durch die Städte und rufen „Lüge“, wenn wir ihnen sagen, dass das Leben ist, wie es ist.“

Die Frage lautet also, wie wir den Leviathan wieder stärken, um den entfesselten Behemoth Mores zu lehren. Eines der Instrumente, die wir hierzu haben, sind die unterschätzten Sozialwahlen. Ob Rentenversicherung oder Krankenkassen – über den Kurs der ‚sozialen Versicherungsträger‘ entscheiden alle Mitglieder, also wir. Wählen wir dort die richtigen Leute in die Verantwortung, dann können wir den Behemoth zumindest einige Steine in den Weg legen.

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-02/medien-luegenpresse-journalismus-strafrecht-fischer-im-recht

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