Tom Otte

Vor der Demokalypse?

Vor der Demokalypse?

– Bericht aus einem Märchenland –

Dank ‚Pillenknick‘ und ‚Single-Leben‘ stünden wir vor einer nie dagewesenen Gefährdung unserer Sozialsysteme, so tönt es uns seit Jahren aus allen Gazetten entgegen. Jeder müsse privat vorsorgen, die Zeit der staatlichen Wohltaten sei vorüber. Unter den Wortführern finden sich allemal Walter Riester und Bert Rürup weit vorn in der Bütt. Letzterer war übrigens lange Zeit Vorsitzender des Mannheimer Forschungsinstituts ‚Ökonomie und demographischer Wandel‘, dessen Anschubfinanzierung durch den ‚Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft‘ erfolgte. Ein Zufall? Nicht nur Transparency International zählt heute das publizistische Ballyhoo um die kommende ‚demographische Krise‘ zu den erfolgreichsten PR-Kampagnen in der Geschichte der Bundesrepublik.

Was ist faktisch der Fall? Die Bevölkerungszahl genuin deutschstämmiger Menschen nimmt seit 1972 ab, die Zahl der Sterbefälle in dieser Gruppe ist also kontinuierlich höher als die Zahl der Geburten. Im Jahr 2012 lag dieser ‚Sterbeüberschuss‘ bei 196.000 Personen, das sagt uns zumindest das Statistische Bundesamt. Die Zuwanderung oder Migration gliche allerdings die Bilanz weitgehend aus. Außerdem bestreiten renommierte Forscher anderswo, dass die Berechnungsgrundlage dieser Statista-Bilanz überhaupt stimme:

„Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung haben höhere Zahlenwerte zur Zahl der Geburten pro Frau als die amtlichen Zahlen der zusammengefassten Geburtenziffer angegeben. Die niedrigen vom Statistischen Bundesamt berechneten Zahlen unterschätzten die Geburtenneigung, da sie nicht die endgültige Zahl der Kinder angäben, die ein Frauenjahrgang in seinem Leben gebiert, sondern einen vorab berechneten künstlichen Wert. Dieser unterschätze wiederum die endgültige Kinderzahl, wenn Frauen die Geburt ihrer Kinder in ein immer höheres Alter aufschöben (der sogenannte „Tempo-Effekt“), was in Deutschland der Fall ist.“

Einen sehr viel größeren Einfluss auf die desolate Lage der Sozialsysteme hätten hingegen die Lohnpolitik und die prekären Beschäftigungsverhältnisse, die seit der Agenda 2010 in Deutschland flächendeckend eingeführt worden seien. Dank eingerissener Niedriglöhne, dank der Scheinselbständigkeit und der zunehmenden Zeitarbeitsverträge würden die Einnahmen der Sozialversicherungen ständig sinken, sie würden zuschussbedürftig. Dieser Effekt eines ‚biographischen Lohnklaus‘ sei sehr viel dramatischer als das Schrumpfen der Bevölkerung. Die scheinbar naturwüchsige demographische Krise sei daher nichts als der Sündenbock für andere, politisch bewusst erzeugte Verwerfungen im sozialen Bereich.

Und wirklich ist die derzeitige ‚demographische Krise‘ statistisch gesehen ein Lüftchen, vergleicht man sie mit anderen geschichtlichen Ereignissen der Bevölkerungsentwicklung. So befahl 1939 ein politischer Desperado wie Adolf Hitler eine ganze Erwerbsgeneration von Deutschen in die Schützengräben, wo sie früh einen ‚Heldentod‘ starben. Die Grafik der demographischen Situation im Jahr 1950 zeigt den resultierenden Einschnitt überdeutlich, eine halbe Generation war gewissermaßen vom Nationalsozialismus ‚ausgerottet‘ worden:bev

Dort, wo die Pfeile auf die Jahrgänge 1915 bis 1920 hinweisen, auf die damalige Generation im besten Erwerbsalter, klafft eine riesige Lücke in der demographischen Pyramide. Trotzdem hat die Nachkriegsgeneration diesen gewaltigen ‚Rentnerbauch‘, der damals als Kriegsfolge entstand, klaglos bewältigt, dank der ‚geschlossenen Erwerbsbiographien‘, die im nachfolgenden Wirtschaftswunder noch die Regel waren.

Was aber müssen wir – bei einer sehr viel geringeren ‚demographischen Krise‘ – heute nicht alles in den Zeitungen lesen. Deutschland stürbe aus, heißt es. Eine Klage, so alt wie die Bevölkerungswissenschaft, wo noch 1932 ein Friedrich Burgdörfer über die „drohende Schrumpfung und Überalterung des Volkskörpers“ greinte, während zugleich der Führer ‚Lebensraum im Osten‘ für sein überbordendes Ariertum forderte. Der Alarmismus der Peuplierungsfanatiker ist so alt wie das Wort Demographie: Ständig sterben angeblich die Deutschen aus, schon seit Anno 1900, während sie seither faktisch doch von 60 auf 81 Millionen wuchsen.

Die Deutschen würden aber immer länger leben, heult es uns prompt aus den Reihen der Versicherungswirtschaft entgegen. Ja und? Ist das etwa schlecht? Wer eine Gesellschaft mit kurzlebigen Eltern und vielen Kindern erleben möchte, der soll nach Burma ziehen! Wer von einer kinderreichen Gesellschaft mit wenigen Alten träumt, der will im Grunde zurück ins Mittelalter. Nur dort gibt es jene Bevölkerungspyramiden, die an der Basis breit sind, während sie nach oben hin spitz zulaufen, nur dort gibt es das statistische Ideal der internationalen Versicherungswirtschaft.

Unsere Lebenserwartung steigt also. Auch an dieser an sich guten Nachricht entdecken die „Demokalyptiker“ nur schlimme Folgen, von steigenden Pflegekosten bis hin zum längeren Rentenbezug. Förmlich das Gegenteil ist richtig: Die deutsche Bevölkerung bleibt nämlich – cum grano salis – immer länger gesund, sie arbeitet auch immer länger, meist gesellschaftlich sinnvoll und ehrenamtlich, eine Arbeit, die im Alter gewissermaßen mit der Rente entlohnt wird. Die höheren Kosten für die Gesundheit aber, deren Löwenanteil fällt allemal erst im letzten Lebensjahr an, ganz unabhängig davon, ob jemand mit 63 oder mit 83 stirbt.

Von ‚explodierenden Sozialkosten‘ kann ferner keine Rede sein, bezieht man sie auf den produzierten Wohlstand der Gesellschaft. Natürlich steigen die Sozialausgaben absolut, genau wie die Löhne oder die Preise. Trotzdem geben wir für das ‚Sozialgedöns‘ seit Anno Adenauer ziemlich gleichbleibend ein knappes Drittel unseres Bruttoinlandproduktes (BIP) aus. Auch die Agenda 2010 hat daran übrigens nur wenig geändert. Was die Rente mit 67, die niedrigeren Lohnnebenkosten oder die höhere Selbstbeteiligung einerseits einspart, das fällt der Gesellschaft andererseits später als Lohnzuschuss, als Grundsicherung usw. wieder auf die Füße.

Wird aber nicht unsere Produktivität mit der ‚Überalterung‘ sinken? Das ist dann das letzte Argument, dass die Kassandras der Demographie aus der Schublade holen. Wohl kaum – zumindest solange, wie wir in unserer Gesellschaft noch so viele ungehobene Schätze haben: So viele alleinerziehende Frauen, die gern wieder in die Erwerbsarbeit wechseln möchten, so viele Asylsuchende, die trotz guter Ausbildung nicht arbeiten dürfen, so viele Eltern, die ihren Kinderwunsch wegen der Sturheit ihrer Arbeitgeber immer weiter aufschieben müssen, usw.

Kurzum: Das Beschwören der ‚Demokalypse‘ ist zwar ein Berufszweig geworden, auf den sich lukrative Karrieren gründen lassen – zumeist finanziert von der privaten Versicherungswirtschaft. Trotzdem – oder deswegen – ist auch immer viel Scharlatanerie dabei. Denn die tatsächlichen Folgen sind gesellschaftlich überschaubar. Zum Teil widersprechen sie sogar dem kunstvoll erzeugten Bild der vereinigten Statistiker: Wie passt bspw. die Wohnungsnot in unseren Städten mit einer angeblich schrumpfenden Bevölkerung zusammen?

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